Der Crostwitzer Schulaufstand 2001 – ein Rückblick 2021

 

Am 9. August 2001, dem ersten Schultag des neuen Schuljahres, begann der Crostwitzer Schulaufstand. So nennen wir das größte Ereignis sorbischer Widerständigkeit der neueren Geschichte – in unserer Sprache „Chróšćan zběžk”, Crostwitzer Aufstand. Oft kann man auch vom „Crostwitzer Schulstreik” lesen. Das ist lieb gemeint, aber gestreikt hat die damalige 5. Klasse der sorbischen Mittelschule „Jurij Chěžka” Crostwitz/Chrósćicy nicht. Was haben die 17 Mädchen und Jungen getan? Sie gingen vier Wochen in die Schule, für die sich ihre Familien entschieden hatten, die das Kultusministerium aber schrittweise schließen wollte.

Kein „öffentliches Bedürfnis“ für eine sorbische Schule?

Als Begründung für diese Schließungsabsicht wurde das „fehlende öffentliche Bedürfnis“ herangezogen – es fehlten nach Paragraphen-Lage genau drei Schüler, 20 hätten es sein sollen. Nun wurden in jenen Jahren in ganz Sachsen rund tausend Schulen geschlossen. Wegen der demographischen Entwicklung, es wurden viel weniger Kinder geboren als in der Zeit vor der politischen Wende. Das traf vor allem das dörfliche Leben. Und dagegen wurde unter dem Motto „Zukunft braucht Schule“ sogar ein Volksbegehren versucht, das Hunderttausende unterschrieben, aber eben nicht die 450.000, die erforderlich gewesen wären. An den sachsenweiten Treffen der Elterninitiativen beteiligten sich regelmäßig auch sorbische Aktivistinnen und Aktivisten.

Der Pfarrer stürmte mit den Kindern die Schule

Das Hauptproblem aus sorbischer Sicht aber hat Clemens Rehor auf den Punkt gebracht. Er war damals Pfarrer in Crostwitz und führte die Schülerinnen und Schüler nach dem gewohnten Gottesdienst in ihre Schule in Crostwitz – gegen den Willen des Kultusministeriums. Damit unterstützte der die Eltern, die sich mit der Entscheidung „von oben“ nicht abfinden wollten. Pfarrer Rehor hat den „Chróšćan zběžk” nicht initiiert, aber ohne ihn hätte er nicht seinen Lauf genommen. „Der Pfarrer stürmte die Schule mit den Kindern“ vermeldeten die Medien.

Die behördliche Statistik versetzte der Schule den Todesstoß

Im Mai dieses Jahres ist Pfarrer Rehor, der inzwischen auch in Chemnitz als Propst wirkte und unlängst nach Bautzen zurückgekehrt ist, nach schwerer Krankheit erst 68-jährig verstorben. Kurz vor seinem Tod sagte er im Gespräch mit Marko Kowar, Geschäftsführer der Domowina, das auch der Dokumentation der Hintergründe des „Chróšćan zběžk” diente, auf die Frage, wie er die damalige Politik bewerte: „Die sorbische Frage hat überhaupt keine Rolle gespielt. Das war eine rein statistische Angelegenheit. Das hat mich gestört. Die sorbische Mittelschule in Crostwitz war der beste Ort im ganzen Sorbenland, wo die Kinder untereinander ausschließlich sorbisch gesprochen haben.“

Erst ein Gericht beendete die Serie von Schließungen sorbischer Schulen

Es wurde nach der Crostwitzer auch noch die Panschwitzer sorbische Mittelschule geschlossen. Die Radiborer überlebte nur deshalb, weil sich die Gemeinde gegen die Schließung vor Gericht mit Erfolg zur Wehr setzte. Der „Chróšćan zběžk” endete unter dem behördlichen massiven Druck von hohen Bußgelddrohungen gegen die betroffenen Eltern und der amtlichen Ankündigung, das gesamte Schuljahr werde für die Kinder für ungültig erklärt. Und das, obwohl nicht zuletzt voll ausgebildete Lehrkräfte im Ruhestand ihnen kompetent den Unterricht erteilten.

Unterstützung aus ganz Europa – besondere Solidarität aus Tschechien

Zugleich mobilisierte der „Chróšćan zběžk” Unterstützung aus ganz Europa. Die tschechische Regierung unterstützte die Bewegung auch finanziell und schickt seither regelmäßig junge Lehrer in die sorbische Lausitz, auch als Zeichen der Verbundenheit mit dem sorbischen Volk. Die Domowina stand den Eltern mit einer großen Spendenaktion bei Klagen gegen die behördliche Entscheidung zur Seite. Am Ende stand eine Niederlage, die bei vielen Menschen tiefe Trauer hinterlassen hat. Dass erst nach 20 Jahren gemeinsames organisiertes Gedenken stattfindet, verbunden mit einem Nachdenken über die (bildungs-)politischen Schlussfolgerungen, zeugt auch von der Traumatisierung, die die damaligen Ereignisse ausgelöst haben.

Wenn wir mit dem deutschen Fernsehen sorbisch sprechen

Im Mittelpunkt des „Chróšćan zběžk” stand die Entschlossenheit, „öffentliche sorbische Sprachräume“ zu bewahren und für künftige sorbische Generationen weiter zu entwickeln. Damals fingen Menschen an, mit regionalen Fernsehsendern sorbisch zu sprechen, sodass Interviews mit deutschen Untertiteln ausgestrahlt wurden. Das war ein klares Signal: Ja, wir können auch deutsch. Aber wir lassen uns nicht unsere eigene Sprache nehmen. Denn in dieser Sprache lebt unsere Seele, unser Denken und Fühlen.

Im Strukturwandel geht’s wieder um Sprachräume – wie damals in Crostwitz

Heute ist das Thema „regionale Sprachräume“ in aller Munde. In Zeiten des Strukturwandels wird der Förderung der Verbreitung des Sorbischsprechens eine Schlüsselfunktion bei der Pflege des Alleinstellungsmerkmals in der ganzen Lausitz eingeräumt. Das sind die Früchte einer konsequenten Haltung, die im „Chróšćan zběžk” zum Ausdruck gekommen sind. Zugleich fehlen uns überall sorbischsprachige Nachwuchskräfte, das ist auch die Folge der jahrzehntelangen Vernachlässigung muttersprachlicher Kompetenz im Bildungswesen. Dass nun, wie an der Grundschule in Radibor, wieder kleine Klassen auf muttersprachlichem Niveau dank engagierter Eltern möglich sind, könnte ein Licht am Ende des Tunnels sein.

Das Sorbische gehört zur Lausitz – nicht nur für Sorbinnen und Sorben

Es geht nicht darum, dass wir unter uns bleiben wollen. In solchen sorbischen Klassen auf muttersprachlichem Niveau sind auch Kinder, die nicht aus sorbischen Elternhäusern kommen, sondern durch die frühkindliche Witaj-Sprachbildung im Kindergarten befähigt worden sind, in eine solche Klasse zu gehen. Weil ihre Eltern das gewollt haben, oft aus der Überzeugung, dass das Sorbische bei uns in der Lausitz einfach dazugehört.

Wir waren – wir sind – wir werden sein

Deshalb verdient der „Chróšćan zběžk” einen dauerhaften Platz in den Geschichtsbüchern und in der gemeinsamen Erinnerung der Bevölkerung nicht nur in der Lausitz. Er ist eine Absage an das provinzielle und anmaßende „Hier wird deutsch gesprochen!” und eine Einladung zum friedlichen und respektvollen Miteinander auf Augenhöhe im Herzen eines Europas der gleichberechtigten Sprachen und Kulturen. Das sorbische Volk gab es bereits, lange bevor die meisten anderen europäischen Völker entstanden. Mit dem „Chróšćan zběžk” hat es selbstbewusst seinen Anspruch formuliert, auch in ferner Zukunft im Konzert der Völker hörbar mitzuspielen. „Běchmy, smy, budźemy” war und ist das Motto: Wir waren, wir sind, wir werden sein.

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